August 2017, Chiang Mai
Unlängst bin ich ein paar Ordner auf meinem Computer durchgegangen und dabei auf ein paar Videoaufnahmen aus Indiens gestoßen.
Damals war nichts aussergewöhnlich, inzwischen aber, mit ein paar Monaten Abstand sehe ich, wie anders die Welt dort eigentlich war.
Nicht nur die Uhren ticken anders, kollektive Übereinkommen wie Effizienz, oder Pünktlichkeit die bei uns gang und gäbe sind, habe ich dort noch nie gesehen.
Auf der anderen Seite ist die Verantwortung gegenüber der Familie ein unverrückbarer Pfeiler. Hochzeiten werden in den meisten Fällen noch von den Eltern arrangiert, Sex vor der Ehe ist ein Tabu. Schuldgefühle halten das ganze halbwegs stabil, und wenn nicht dann wird es zumindest so gut wie möglich geheim gehalten.
Aber Indien wäre nicht Indien wenn es nicht auch dazu ein Gegenstück gäbe. Alle Extreme scheinen hier ihren Platz zu haben. Wenn ich mir den typischen Inder vorstelle, so hat der eine stoische Ruhe in sich. Er kann stundenlang Schlange stehen, oder sich der Bürokratie ausgeliefert sehen. Die Hupe einer Enfield 500 aus 50 cm Entfernung könnte ihn nicht stressen.
Es hat sicher auch einen praktischen Hintergrund, zu viele Dinge gäbe es über die man sich aufregen könnte. Vielleicht aber ist auch die schiere Menge an Menschen die hier alle ihren Platz finden wollen, die den Inder so gelassen macht.
Kleine Unglücke sind keine große Sache. Würde seine Tochter sich aber in einen Mann aus der unteren Kaste verheiraten wollen, könnte das sehr wohl das gesamte Weltbild ins Wanken bringen.
Die Schranken des Kastensystems sind gerade in Nordindien noch gut verankert. Die Unberührbaren sind dazu verteufelt, die niedrigsten Arbeiten erledigen, und haben schlechte Chancen aus diesem System auszusteigen. Aber Indien wäre nicht Indien, wenn es nicht auch dazu eine Ausnahme gäbe.
Wie wichtig die Schranken auch sein mögen, während dem Farbenfest Holi sind auch die außer Kraft gesetzt. Die Straßen sind ‚unsicher‘. Wer am Vortag keine Ersatzkleidung gekauft hat, wird es am nächsten Tag tun. Kinder laufen mit Spritzpistolen und gefärbten Wasser herum, an jeder Ecke gibt es Säckchen mit Pigmentfarben zu kaufen, jeder darf dem nächsten Fremden ein „Happy Holy“ mit einer Handvoll Farbe ins Gesicht wünschen.
Für einen Tag ist man jedermanns Bruder. Da fragt man sich, wie wichtig solche sozialen Übereinkommen sind, wenn sie eigentlich keine Beständigkeit haben. Was bringen statische Regeln in einem Leben, das in Bewegung ist.
In Indien kann man nie erwarten, dass zwei ähnliche Situationen ein ähnliches Ergebnis bringen. Wenn so viele Extreme koexistieren, stehen deren Regeln auf schwankenden Fundament.
Grade wenn man aus einem Land kommt, wo das erste Paradigma Effizienz heißt und man gar nicht genug normieren und regulieren könnte um dem gerecht zu werden, ist es erfrischend zu sehen, dass all das am Ende auch nur eine Möglichkeit von Vielen ist das so dynamische Leben durchzustehen.